Paradigmenwechsel im Recruiting – Technik ist nicht der Weisheit letzter Schluss

Paradigmenwechsel im Recruiting – Technik ist nicht der Weisheit letzter Schluss

Paradigmenwechsel im Recruiting – Technik ist nicht der Weisheit letzter Schluss

Vieles, das Unternehmen aktuell in Recruitingprozessen anwenden, stammt noch aus „grauer Vorzeit“, in welcher es ein massives Überangebot an Kandidaten gab. Unternehmen konnten aus dem Vollen schöpfen, auf schwammig formulierte Stellenangebote kamen 300 Bewerbungen, so dass man nach oberflächlichen Kriterien schnell mal über alle Unterlagen fliegen konnte, viele gute Bewerber sind dabei auf der Strecke geblieben. Auch heute gibt es noch Unternehmen, die von dem Glauben angetrieben werden, die Kandidaten müssen sich dem unterordnen, was Arbeitgeber fordern. Dieses Modell hat das Datum seiner Haltbarkeit mehr als überschritten.

Speziell gut ausgebildete Kandidaten stellen heute viel mehr Ansprüche und können häufig aus mehreren Angeboten auswählen. Ein Beispiel hierfür sind gut ausgebildete Techniker oder Ingenieure, hier haben wir in der Praxis die Erfahrung gemacht, niemand wechselt die Position für 10.000,– € p.a. Mehreinkommen. Unternehmen sollten bei der Einstellung allein über das Gehalt berücksichtigen: Wer nur für Geld kommt, geht auch wieder für Geld. Sie müssen ihren zukünftigen neuen Mitarbeitern und auch ihrer Stammbelegschaft mehr bieten als dies ihre Mitbewerber tun.

Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, wie ein Bewerbungsprozess in Ihrem Hause aussieht? Speziell große Unternehmen haben eigene Recruitingplattformen geschaffen und somit die Flexibilität aus dem Bewerbungsprozess genommen. Viele Unternehmen glauben, dass durch automatisierte Bewerbungsabläufe und automatisiertes „matching“ (Abgleich der eingehenden Bewerbungsunterlagen mit dem hinterlegten Anforderungsprofil) ein effizientes Bewerbermanagement entsteht. Wofür steht das Wort „automatisiertes Bewerbermanagement“ – eine sicherlich durchdachte und gut programmierte Datenbank übernimmt anhand hinterlegter Kriterien die Vorauswahl, so dass Personalreferenten nur noch die wirklich qualifizierten Bewerber auf den Tisch bekommen. Glauben Sie, dass das so ist?

Viele gute Bewerbungen werden dabei nicht berücksichtigt oder noch schlimmer: Viele gute Bewerber geben ihre Daten erst gar nicht in diese Datenbanken ein. Stellen Sie sich vor, Ihre Datenbank ist so programmiert, dass nur Kandidaten, die nach dem 01.01.1980 geboren sind, in die engere Auswahl kommen. Unter Umständen ist der oder die Kandidat/in mit dem Geburtsdatum 15.12.1979 aber fachlich genau der oder die, den Sie suchen. Diese Kandidaten werden in diesem System niemals auftauchen. Oder Sie haben ein Gehalt 40.000,– € p.a. als Grenze eingestellt, so dass Kandidaten mit einem Gehaltswunsch von 40.500,– € p.a. keine Chance hätten, obgleich sie vielleicht die perfekte Besetzung wären. Abgesehen davon, dass Unternehmen selbstverständlich nicht zugeben werden, dass ihre Plattformen derart stringent arbeiten und dies im Zuge des AGG nicht erlaubt ist, lassen Unternehmen damit wertvolle Chancen ungenutzt.

Wir haben in Laufe unserer 19-jährigen Berufspraxis schon häufig von Bewerbern Klagen über diese Form des Bewerbungsmanagements gehört. Stellen wir uns doch folgendes Szenario vor:

Wir tauschen einmal die Perspektiven – nicht der Bewerber bewirbt sich bei uns im Unternehmen, sondern das Unternehmen bewirbt sich bei den Kandidaten. Im Internet gibt es eine ganz neue Börse, eine „Unternehmen bewerben sich bei mir“-Börse, kurz: „Skippy“. Auf dieser Plattform haben Kandidaten die Möglichkeit, ihr eigenes Unternehmens-Managementtool zu nutzen. In unserem Beispiel nehmen wir einen typischen IT-Spezialisten (Informatikstudium mit Auszeichnung, alle aktuellen Zertifikate, mehrsprachig und enorme Detailverliebtheit). Mit großer Akribie erstellt er sein Unternehmer-Managementtool und versieht es mit allen Add-ons, die das Tool zur Verfügung stellt. Nachdem das Tool zu seiner Zufriedenheit steht, haben die Unternehmen die Möglichkeit, sich bei ihm über das Tool zu bewerben, aber bitte nur über das Tool. Von E-Mail-Bewerbungen und von telefonischen Anfragen im Vorfeld mögen die Unternehmen bitte absehen, da er die nächsten 10 Tage auf Weiterbildung sein wird und er erst danach die Sichtung der durch das System „gematchten“ Unterlagen vornehmen wird. Das Unternehmen möge doch bitte einen historischen Abriss, von der Gründung bis zum heutigen Tage hochladen, darüber hinaus mögen Sie bitte Auszeichnungen, Zertifikate sowie ehrenamtliche und soziales Engagement angeben. Sie haben die Möglichkeiten aktuelle Zahlen, wie Quartals- und Geschäftsberichte, Informationen zu geplanten Börsengängen, etc. anzuhängen. Darüber hinaus fügen Sie bitte Bilder des Firmengebäudes und des neuen Arbeitsplatzes bei. Statements und Referenzen von aktuellen und ehemaligen Mitarbeitern sind genauso zwingend erforderlich, wie Kontaktdaten (Telefon, Mobil, Email, Facebook, Google+, LinkedIn, Kununu, etc.). Nach Möglichkeit reichen Sie bitte alle Unterlagen zweisprachig ein, da unser IT-Spezialist aus Italien kommt, bevorzugt dieser die Unterlagen in Deutsch und Italienisch. Nachdem die Unternehmen alle Pflichtfelder, welche mit einem Sternchen gekennzeichnet sind (und dies sind nahezu alle Felder) ausgefüllt haben, dankt das System dafür, dass Sie die Unterlagen hochgeladen haben. Der Kandidat wird jetzt über Ihr Interesse an ihm informiert, er wird sich bei Interesse seinerseits bei Ihnen melden.

Nachdem unser IT-Spezialist von seiner Weiterbildung zurückkommt, öffnet er seinen Account und stellt erfreut fest, dass sich 10 Unternehmen bei ihm beworben haben. Ein geübter Blick und die Unterlagen sind schon mal grob vorqualifiziert, da gibt es Unternehmen, die sind zu klein oder zu groß, haben keine internationale Ausrichtung, keine Kinderbetreuung, flexible Arbeitszeiten fehlen oder haben ungenügende Angaben zum Thema Verdienst, Urlaub und sonstigen Benefits gemacht. Diese Unternehmen fallen per se schon einmal durch, er hat ja keine Zeit den Unternehmen die Funktionsweise der Datenbank zu erklären. Fazit: bei seiner Vorauswahl fallen 7 Unternehmen heraus. Es bleiben 3 Unternehmen übrig, mit denen er ein kurzes Assessment mit anschließender Kompetenzanalyse durchführen wird.

Er lädt die entsprechenden Unternehmen in einem selbstverständlich automatisierten Verfahren und mit einem Standard-E-Mail-Text zu einem ersten Interview ein. Es wird darum gebeten, sich am Mittwoch um 8:07 Uhr bei ihm einzufinden und sich den ganzen Tag zur Verfügung zu halten. Eine Wegbeschreibung liegt der Email selbstverständlich bei. Pünktlich Mittwochmorgen 8:07 Uhr finden sich die geladenen Unternehmen, vertreten durch Führungskräfte und Geschäftsführer, bei ihm zu Hause ein und werden kühl mit den Worten begrüßt, dass es sich heute lediglich um ein erstes Kennenlernen handelt und man heute noch nicht mit einer Entscheidung rechnen kann.

Unser Kandidat hat sich selbstverständlich gut auf das Gespräch mit den Unternehmen vorbereitet und fordert alle Unternehmen erst einmal auf, sie mögen sich in den nächsten 15 Minuten auf folgendes Thema vorbereiten „Warum sollte ich mich für Ihr Unternehmen entscheiden“. Sie haben dann 3 Minuten Zeit ihre Präsentation unter Zuhilfenahme modernsten Equipments vorzutragen, danach folgt ein persönliches Einzel-Bewerberinterview. Die jeweils wartenden Parteien können in der Zwischenzeit einen Unternehmenstest zur Kompetenzmessung am Computer durchführen.Unser IT-Spezialist führt diese für ihn lebenswichtigen Bewerberinterviews und Auswahlverfahren natürlich nicht alleine durch. Hierzu hat er sich fachliche und psychologische Fachkräfte zur Unterstützung eingeladen. Da wären als erstes zu nennen:

1. Seine Ehefrau, welche von den anstehenden Entscheidungen maßgeblich betroffen sein wird und die ihren Mann natürlich sehr gut kennt und weiß, was für ihn gut ist.

2. Sein bester Freund, ebenfalls ein absoluter Tekki, so dass hier die fachliche Kompetenz abgeklopft werden kann und die Unternehmen sich nicht als Blender entpuppen.

3. Seine Mutter, als Italienerin ist dies fast die wichtigste Fachkraft am Tisch, da Sie aufgrund ihrer Lebenserfahrung natürlich den psychologischen Teil des Interviews abdeckt, Sie wird die Reaktionen im Gesicht, die Körpersprache genau studieren, seien Sie versichert, ihr wird nichts entgehen.

Perfekt ausgestattet und fachlich hervorragend unterstützt hört man sich mit unbewegter Miene die einzelnen Vorträge der Unternehmen an, seine Ehefrau macht eifrig Notizen, seine bester Freund stellt eine technische Frage nach der anderen und scheint irgendwie nie zufrieden zu sein. Die Mutter unsers Tekkis beobachtet alles mit Argusaugen und lässt sich nicht in die Karten gucken. Die präsentierenden Unternehmen, jeweils vertreten durch hochrangige Führungskräfte, kommen ganz schön ins Schwitzen, bei dem ein oder anderen versagt bei Fragen „Wieso haben Sie für die Entwicklung dieses Projektes so lange gebraucht?“ oder „Warum hat mein Vorgänger Ihr Unternehmen verlassen?“ schon fast das Deodorant. Nachdem sich unser Kandidat alle Präsentationen angehört hat und alle Unternehmen ihr Kompetenzprofil ausgefüllt haben, werden sie von der Mutter unseres Kandidaten mit den Worten verabschiedet: „Wir melden uns bei Ihnen“ – Getreu dem Motto: „We call you, don’t call us“.

Völlig verunsichert verlassen die Unternehmen, vertreten durch verstörte Führungskräfte, das Zuhause unseres Kandidaten. Die Frage nach Erstattung der Fahrkosten traut sich niemand mehr zu stellen. Es ist keinem der Unternehmen möglich eine Prognose zu stellen, ob dieses Gespräch gut oder schlecht lief. Die einzige Reaktion, welche unsere Unternehmen mitnehmen konnten: Die Mutter des Kandidaten hat zwischendurch die Arme verschränkt und sich weit nach hinten gelehnt – Hatte dies etwas zu bedeuten oder musste sie einfach nur die Sitzposition wechseln, da die Küchenstühle nicht wirklich bequem waren? Alles Spekulation!

Sicherlich verstehen Sie, was ich damit meine. Selbstverständlich wird sich der Markt nicht komplett drehen und wir werden im Internet keine steigende Zahl von „Skippy–Plattformen“ haben, aber es zeigt meiner Meinung nach ganz deutlich, dass hier in den Köpfen der Personalverantwortlichen ein Paradigmenwechsel vonstattengehen sollte. Viele menschlich und fachlich hochqualifizierte Kandidaten bleiben bei solchen automatisierten und computergestützten Auswahlverfahren auf der Strecke. Verlassen Sie sich nicht nur auf die Technikseite, vergessen und unterschätzen Sie den Faktor Mensch nicht.

Ich bin mir sicher, dass gut ausgebildete Personaler jeden Computer in der dauerhaften Besetzung von offenen Vakanzen schlagen. Mag sein, dass Computer besser Schach als Menschen spielen, aber Erfahrung, Empathie und Menschenkenntnis sind Eigenschaften, die Computer bisher noch nicht haben und eine Positionsbesetzung ist niemals nur eine rein logische Entscheidung. Nutzen Sie technische Lösungen so wie sie gedacht sind: Als Hilfsmittel und Unterstützung!

Ihre Susanna Domsel
Akkreditierte INSIGHTS MDI® Beraterin


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